Inseln der Stärkung

Am letzten Sonntag ist das Wochenende sexual flow zu Ende gegangen, von dem ich mich immer noch genährt und inspiriert fühle. Und was das Corona-Virus betrifft, war es vermutlich sicherer als manche andere Aktivität, denn während 2 Tagen sind sich nur die paar wenigen Teilnehmenden begegnet und nicht Dutzende oder Hunderte oder Tausende wie im Alltag, die alle die selbe Türklinke oder denselben Einkaufswagen anfassten. Es fühlte sich wie eine kleine Insel an, ähnlich wie beim Decamerone.

Um 1476 verbreitete sich im deutschen Sprachraum von Ulm aus eine neue Methode, die das Sprechen über die schönen Dinge unseres Lebens in den kommenden Jahrhunderten nachhaltig veränderte: Es war die erste Deutsche Ausgabe von Boccaccios Dekamerone.

Ein bisschen mehr über den Inhalt: Im Jahr 1348 hatte die Beulenpest die Stadt Florenz erreicht. Berge von Toten türmten sich. Die Seuche raffte mehr als die Hälfte der damals rund 100 000 Einwohner hinweg, was im Vergleich zur heutigen Corona-Pandemie wohl über tausendmal schlimmer war. Unter den Überlebenden herrschte panische Angst und grosser Stress, die da und dort bis zu Verrohung und Gewalt führte.

Gegen diese grauenvolle Situation stellte der italienische Dichter eine Gegenwelt auf, "um dem Trübsinn, dem Schmerz und der Angst zu entgehen". Seine Helden zogen sich für vierzehn Tage auf einen Landsitz ein paar wenige Kilometer ausserhalb der Stadt zurück.

Während zehn Tagen wählten sie einen oder eine unter ihnen zum König oder zur Königin, der/die dann das Thema des Tages vorgab. Nach der Mittagsruhe wurde erzählt, am Abend erfreute sich die Gesellschaft an herrlichen Speisen, sang und tanzte. Die Erzählungen waren aufbauend und prickelnd erotisch. Am nächsten Tag begann alles von vorn. Damit entstand "Il Decamerone", übersetzt das Zehntagewerk.
Das Schwerpuntthema der 10x10 Novellen ist die Liebe in vielen Variationen.
In diesem Meisterwerk wird gleichzeitig ein Übergang von mittelalterlicher Askese und höfischer Dichtung zu einer sinnenfrohen Volksdichtung der Renaissance sichtbar. Lebensfreude, Witz, Erotik und menschliche Tiefgründigkeit richten sich stärker auf ein lebensnahes Diesseits, statt wie in früherer Literatur auf übersteigerte Tugenden, deren Früchte erst im Jenseits gepflückt werden könnten.  

Mit dem "Decamerone" hat Boccaccio Weltruhm erlangt. Etliche Dichter und Dramatiker ließen sich vom "Decamerone" inspirieren, u.a. William Shakespeare, Carlo Goldoni, Hans Sachs und Gotthold Ephraim Lessing in "Nathan der Weise"

Stelle dir vor, ein paar Tantriker ziehen freiwillig in ein Seminarhaus als Retreat (was ansprechender klingt als Quarantäne), während draussen Lebensmittelgeschäfte leergeräumt und Veranstaltungen abgesagt werden und in Schulen, Arbeitsstellen, Zügen und Spitälern Unruhe herrscht.
Die Freunde suchen Abstand, Zentrierung, innere Kraftquellen und hoffen, neuen Mut zu schöpfen. Sie erzählen sich Geschichten und praktizieren tantrische Übungen, die vom Glück handeln, vom Schicksal, von der menschlichen Intelligenz oder Geschicklichkeit, von persönlicher Entfaltung, von der Lebenslust und vor allem von der Liebe. Am Ende kehren sie zentriert, ausgeglichen und inspirierend in die heimgesuchte Welt zurück.

Und die Lehr von der Geschicht'?
Weiss ich nicht wirlich, aber dennoch ein bisschen.
Die Corona-Pandemie und die Geschichte unterstützt mich, präsenter unterwegs zu sein, besser zu mir zu schauen, zu entschleunigen, verwundert die schnellen Veränderungen in unserer Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen, wesentlicheres leichter zu spüren, innerlich Verbindungen mit geliebten Menschen herzustellen.
Vielleicht kommt alles wie gewünscht, vielleicht auch nicht. Schön wäre es, klare Rezepte zu haben für ein grösseres Wohlbefinden, für eine bessere Welt, gegen das Virus und gegen meine Vergänglichkeit. Übung in Gelassenheit und gleichwohl Aufmerksamkeit.
Solange ich atme, kann ich mich auf Begegnungen mit Menschen, mit der Welt und mit sich selber einlassen, fühlen, vielleicht etwas Greifbares daraus lernen, mit der Intelligenz des Herzens handeln, annehmen, sein.

Wer Lust hat, kann die Novellen lesen unter http://www.zeno.org/Literatur/M/Boccaccio,+Giovanni/Novellensammlung/Das+Dekameron