Beziehung, Sexualität und Liebe - Geschenk oder Geschäft?

Mit welchen Bedürfnissen und Absichten sind wir in Beziehung(en), Partnerschaft und Sexualität? Was erfüllt uns darin? Wie drücken wir unsere Liebe aus? Es sind Fragen, die wir vermutlich je nach Lebensphase und aktueller Situation unterschiedlich beantworten. Wir gehen ihn an diesem Anlass hier und später vertieft an den Weihnachts- und Sylvestertagen nach.
Den Zusatz "Geschenk oder Geschäft?" im Titel wählen wir, weil der Anlass im Advent und in der Weihnachtszeit stattfindet und wir dann gerne Geschenke für unsere Liebsten und uns selber kaufen. Aber nicht nur: Wir lassen uns zusätzlich durch ein Thema herausfordern, wo wir in unserer Partnerschaft und in der Gesellschaft nicht so gerne hinschauen und zu strengen, kategorischen Meinungen neigen.

Grundlage des Online Open Space vom 14.12.2020 ist ein Interview von Peggy Rockteschel in Welt-im-Wandel-TV mit Ilan Stephani, Körperforscherin, Sexualcoach, Seminarleiterin, Philosophin, Buchautorin und Ex-Prostituierte. In diesem Interview von rund 45 Minuten beleuchtet Ilan sowohl die (freiwillige) Prostitution als auch ganz alltägliche Ausdrucksformen der Liebe von Männern und Frauen lebendig aus eigener Erfahrung und mit grossem Hintergrundwissen. Sie lässt uns in eine Welt schauen, welche die meisten als geheimnisvoll und anrüchig verorten, enthüllt die Normalität, die sie darin gefunden hat und zeigt Zusammenhänge mit einer patriarchalen Gesellschaft auf. Es ist ein Schritt zu gesellschaftlicher und individueller Schattenarbeit. Im weiteren erwähnt sie Sehnsüchte, die sie bei Männern gefühlt hat, ortet Potentiale bei Frauen und ermöglicht uns, Parallelen zu unseren eigenen Geschichten und Sehnsüchten zu finden.

Das Interview mit anschliessender Reflexion unter uns findet am 14. Dezember 2020, 19:30h - max. 22:30h statt.
Für den Zugang zu diesem Online-Anlass via Zoom ist eine Anmeldung unter anmeldung@erfahrungskreis.ch und eine Bereitschaft zum Persönlichkeitsschutz für alle Beteiligten, zu achtsamer Kommunikation und zu Selbstreflexion erforderlich.

 

Ilan Stephani, Theresa Bäuerlein: Lieb und teuer. Was ich im Puff über das Leben gelernt habe. Ecowin 2017. ISBN-13 9783711001252. Auch als eBook und Hörbuch erhältlich.
English Version: Dear and Costly. Everything I Learned About Life in a Brothel.
More at https://www.ecowin.at/produkt/lieb-und-teuer/rights/  with an English transscript of some pages.

In ihrem Buch bearbeitet Ilan viele Themen, die mit dem Puff nichts zu tun haben. Sie spricht eigentlich über das, worüber wir so viel schweigen, z.B. was hinter verschlossenen Türen geschieht. Prostitution ist zwar ein exotisches Thema, aber es ist wie ein Schlüsselloch, durch das wir in unser eigenes Herz schauen können.

Es ist interessant, mit wie viel Passion wir Meinungen haben über Prostitution. Ilani findet dazu: "wow, wie nahe ist das an mir dran, dass ich so viel Energie in diese Meinung stecke und ich mich fragen kann, was es mit mir zu tun hat!"

Dieses Buch ist nicht eine Einladung, in der Prostitution zu arbeiten, sondern selber aus dem privaten Tauschhandel von Sex gegen Liebe, Sex gegen Sicherheit und Sex gegen Anerkennung auszusteigen. Danach würde für sie eine sexuell sehr reife Welt folgen.
 

Transskription der wichtigsten Teile des Interviews, falls du dich vorher darauf einstimmen magst:

Intro: Jede Person scheint eine sehr entschiedene Meinung oder Haltung zu haben. Das kann misstrauisch machen. Wir können fragen, wieso eine solche entschiedene Meinung uns so wichtig ist.
 

Ilan erzählt, wie sie zu Prostitution kam 
Hydra Frauenfrühstuck
Prostituierte kennenlernen
Erkenntnisgewinn: Prostituierte sind noch normaler als ich.
Interesse, das tiefer zu erfahren.
 

Positionierung
Sie war freiwillig in der Prostitution. Es wird primär dieses individuelle Erleben beleuchtet.
Andere Situationen wie z.B. Zwangsprostitution gibt es auch, und
Sex unter Zwang ist ein Verbrechen. Das ist aber nicht Gegenstand dieses Interviews.
In Deutschland gibt es 200'000 bis 400'000 Prostituierte und genau soviele verschiedene Realitäten von Prostitution.

Ein Geheimnis der Prostitution 
Der Öffentlichkeit und selbst Freiern ist verborgen, was hinter den Kulissen in der Prostitution läuft.
Prostitution hat ein Geheimnis, nämlich dass sie kein Geheimnis hat.
Es ist sehr viel banaler oder langweiliger, als wir uns das vorstellen.
Es ist nicht der andere Sex.
Der Hauptunterschied liegt im Kopf.
Es ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft.

Viele Prostituierte machen gegen Geld, was nicht Prostituierte gegen nicht Geld tun. Aber der Unterschied in ihrem Umfeld war klein. Ilan zitiert einen provozierenden Vergleich von Ehefrau mit Prostituierter aus dem Buch „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir [das später wieder aufgegriffen wird]:

Prostitution ist eigentlich ganz normal, meint Ilani.
Das sei auch das grösste Potential, dass wir genauer hinschauen.
 

Macht, Gewalt und Projektionen 
88% aller Männer haben mindestens einmal im Leben käuflichen Sex konsumiert. Obwohl es fast alle Männer tun, halten wir Monster-Clichés über Männer aufrecht.

Im Kern ist es Männerhass und eine Unterstellung, dass Männer sexuelle Schweine sind.
Auch im Puff sind Männer ganz normal. Sie wollen nicht ganz andere Sachen, sondern Dinge, die wir sowieso wollen als Menschen.
Sie wollen sich angenommen fühlen, richtig fühlen, im Kontakt fühlen, jemanden erreichen.
Das ist viel sensationeller als Sensationsgier.

Ilans Fazit: Ein typischer Freier ist ein typischer Mann; es ist ein und dieselbe Figur.
 

Ab wann wird ein Freier zum Täter?  
Zum einen dann, wenn wir von Tätern sprechen wollen.
Und im weiteren, was den Mann zum Täter macht ist, die Frau gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen oder die Frau in der Zwangsprostitution auszubeuten.

Aber in einer freiwilligen Prostitution ist es für sie nicht ersichtlich, wieso ein Mann automatisch ein Täter ist.

Alice Schwarzer nennt Prostitution und Pornografie sexuelle Gewalt gegen die Frau und dass der Mann in der Prostitution über die Frau triumphiert.
Alice Schwarzer findet, Männer kaufen bei Prostituierten nicht Sex, sondern Macht.

Ilani kann das aufgrund ihrer Erfahrungen nicht bestätigen und hat das nicht so erlebt. Sie hat eher den Eindruck gehabt, dass die Möglichkeit von Macht den Männern eher unangenehm ist. Vielleicht steht das auch in einem Zusammenhang, welche Männer ein bestimmter Typ von Prostituierte anzieht. Sie hatte das Gefühl, der persönliche Kontakt und das Gespräch auf Augenhöhe sei für die Männer viel interessanter gewesen.
Vielleicht stimmt das in Einzelfällen.
 

Was Männern bei Sexualität geschieht. Was Männer sich ersehnen
Männer wollen eher ein Richtigkeitserlebnis. Es könnte sein, dass ihnen das im normalen Leben fehlt.
Wir sind inzwischen weit in der Sichtweise, wie frauenfeindlich Patriarchate sind. Der nächste Schritt ist, dass wir sehen wie männerfeindlich Patriarchate sind. Im Patriarchat verlieren alle.

Das Patriarchat bringt schon Jungs bei, sich für ihre Sexualität zu schämen.
Das bedeutet auch, Männer wachsen damit auf, falsch zu sein. Sie wollen sich aber richtig fühlen, was ein menschliches Bedürfnis ist.
[12:26] Für Männer in der Prostitution gibt es da immerhin die Möglichkeit sich ein solches Gefühl zu kaufen. Das ist etwas unglücklich, weil es Fake ist, gekauft ist. Aber immerhin ist es eine wärmende Illusion für die Männer, sie seien richtig.
  

Prostitution und Therapie  
In der Prostitution ist auch ein therapeutischer Aspekt gegeben im Sinne von zuhören und etwas erfüllen.
Therapie geht aber noch weiter, was in der Prostitution fehlt, z.B. Impulse geben, nachfragen, infrage stellen, blinde Flecken beleuchten, konfrontieren, herausfordern.
  

Findet mit der Prostitution eine Dissoziation statt?
Es besteht die Möglichkeit von Dissoziation, z.B. indem eine Frau sich in der Prostitution einen anderen Namen gibt oder indem sie einen anderen Charaktertyp spielt. Ilan hat von sich den Eindruck, dass das bei ihr nicht stattgefunden habe.
  
 
Weitere Aspekte, wieso Männer zu einer Prostituierten gehen
Auch für Bindung gehen viel mehr Männer viel eher zur Prostitution als für Oberflächlichkeit oder Anonymität und viel eher für Vertrauen als für Oberflächlichkeit.

Es gibt auch Männer, die zu einer Prostituierten gehen, um ihr/einer Frau ihre Liebe/ Zuneigung zu gestehen, ohne zurück gewiesen zu werden. Im Alltag würden Frauen eher denken, was will der jetzt von mir?, was in einer sexistischen Gesellschaft verständlich ist. Männer gehen auch zu einer Prostituierten, um ihr sagen zu können, du bist eine total tolle Frau, ich liebe dich und ich möchte nur, dass du das weisst. Sie nutzen dieses Setting, weil sie sich hier deutlich sicherer fühlen, als wenn sie das jemandem in der freien Wildbahn des Alltag sagen würden.
Doch nicht nur in der freien Wildbahn, sondern auch bei Ehemännern, die ins Puff gehen, kann das vorkommen, ist aber im Kontext der Ehe etwas komplexer [Ilani verfolgt das hier nicht weiter, sondern wechselt ab Minute 18 zu folgendem Thema:]

In dem Moment, wo wir die Notwendigkeit abschaffen, zur Prostituierten zu gehen, schaffen wir auch die Ehe ab.
Sie glaubt, das sind zwei Seiten der Medaille.
Die Ehe fühlt sich eng an, die Prostitution fühlt sich weit an. Beides ist im Kern dadurch entstanden, dass wir im Patriarchat leben, dass wir die weibliche Sexualität zu kontrollieren versuchen.
 

Monogamie, Polygamie und sexuelle Ausdrucksformen. Der Mensch als orgasmisches Wesen  
Inwieweit ist denn Monogamie überhaupt überlebensfähig?
Wir sind primär sexuell: Wir sind durch Sex entstanden, und alles andere kommt später. Ilani findet den Begriff Polygamie genauso absurd wie den Begriff Monogamie. Genauso absurd findet sie, dass Sex primär nur mit zwei Menschen gedacht wird, da es doch viele weitere Ausdrucksformen gibt (z.B. mit sich selbst, mit weiteren usw.)

Im Kern sind wir sehr sexuelle, sehr orgasmische und sehr sehnsüchtige Wesen, dieses Potential in hunderttausend verschiedenen Möglichkeiten auch wirklich zu leben. Wir sind weder nur monogam noch nur polygam. Wir sind weder nur männlich noch nur weiblich. Wir sind ein Fluidum, ein Spektrum aus Möglichkeiten, um sich/uns zu erleben.
Es ist für Ilan ebenso verständlich, ob Menschen gegen die Ehe rebellieren oder gegen die Prostitution oder Pornografie oder gegen ein solches Interview. Es sind für sie verschiedene Symptome desselben Käfigs, den wir um diese Grundkraft drumherum gelegt haben.
 

Frauen mit angelernten Mustern und dem Potential, nein sagen zu können  
Viele Menschen werden vermutlich mit der Vorstellung Schwierigkeiten haben, dass Ilani freiwillig Sexarbeiterin war. Ob sie dabei auch Spass und Lust empfand? Ob sie das nicht ausgepowert hat? Wieviele Männer kamen jeweils zu ihr? [Das waren ein paar Fragen der Interviewerin]
Bei Ilan waren es jeweils 3-5 Freier pro Arbeitstag. Viele Frauen scheinen sich das nicht vorstellen zu können.
Für Ilan war es ein Reiz, mit der Lust in dieser Weise zu experimentieren. Deutlich interessanter für sie war, im intimen Kontakt zu sein, z.B. mit jemandem auf Augenhöhe im Gespräch zu sein und dann noch irgendwie Sex zu haben (statt dass der Sex das one and only gewesen wäre).
Eine Schattenseite dieses Jobs ist, dass er energetisch aufwändig ist. Ilani mochte oft am Ende eines Arbeitstages nichts anspruchsvolles mehr tun, sondern nur noch was essen, einen Film gucken usw.  Es ist typisch für Dienstleistungsberufe, die ihrer Ansicht nach typisch weiblich sind: Sie geben und geben im Kontakt und verlieren u.U. sich, ihre Energie oder ihre Abgrenzung.

Ob etwas in der Kindheit gefehlt habe, dass sie diese Erfahrung im Puff gebraucht hat?
Ilani findet, dass in jeder Kindheit und Jugend in dieser Gesellschaft uns ein Haufen Dinge fehlen. Keine Ahnung, was ihr gefehlt haben sollte, was relevant für ihren Schritt in die Prostitution gewesen wäre. Man könnte ebenso gut argumentieren oder fragen, was jemandem in der Kindheit gefehlt habe, um später nicht im Puff zu arbeiten und sich eine solche Arbeit nicht vorstellen zu können.

Was ist dabei anders im Vergleich zum verbreiteten Muster des netten Mädchens in unserem allgemeinen Dienstleistungssegment, das dient, höflich ist, sich anbietet?
Ilani findet, dass es nicht anders ist, sondern nur klüger: Wenn sie schon lernen muss, das nette Mädchen aus gutem Hause zu sein, das stets höflich ist und lächelt, dann möchte sie am Ende des Tages mehr davon haben, als den Männern die Eier geschaukelt zu haben. Dann möchte sie auch noch Geld dafür.
Sie will damit nicht sagen, Prostitution sei gut. Sie findet nur, dass Prostitution folgerichtig ist, wenn Frauen sich im Patriarchat wiederfinden. Frauen im Patriarchat haben ihr Lächeln, ihr Verständnis und ihre soft skills in der Kommunikation einzutauschen gegen das Gefühl von Energie und Anerkennung. Wieso soll Energie und Anerkennung dann nicht in Form von Geld kommen?

Prostitution ist für Ilan keine Lösung, aber Prostitution zeigt, wie dysfunktional wir sind und wo wir ansetzen müssten, um Prostitution aufzulösen:
Wir sollten aufhören, kleine Mädchen schon zu lächelnden Maschinen zu erziehen. Frauen müssten glücklicher sein und müssten mit mehr Freiheit und Selbstbewusstsein aufwachsen.
Wenn Frauen sich ändern, würde folgendes geschehen [23']:
Ihre Sexualität ist kraftvoll und toll, ohne dass ein Mann da ist, der sie bestätigt oder spiegelt oder begehrt.
Wenn wir in unserer Gesellschaft Frauen so aufwachsen lassen würden, hätten die Frauen ganz klare Grenzen. Sie würden dann wahrscheinlich sagen: Im Puff zu arbeiten kann ich mir nicht vorstellen, weil ich nicht mehr davon habe ausser Geld. Diese Frauen müssten nicht lernen zu lächeln und es jemandem recht zu machen. Sie würden sich sicher fühlen in ihren Grenzen. Sie würden mit Männern Sex haben wollen und ihnen sehr klar sagen können, was sie wollen und was nicht.

Männer würden dann sagen, dass Frauen aufgehört haben, kompliziert zu sein. Ich [Mann] frage sie, was sie wollen, und sie geben mir eine klare Antwort. Das ist cool!
Dann würden Monogamie, Polygamie, Prostitution und Ehe sich auflösen. Wir wären im sexuellen Paradies.
 

Ihre Erfahrung einer Vergewaltigung
Ilani hat auch Schattenseiten erlebt, z.B. wurde mal im Puff vergewaltigt. Ein Mann schien zu wissen, dass Ilani wie erstarrt, wenn sie von jemandem zu schnell überrumpelt oder überwältigt und zu grob anfasst wird. Neben dem Schmerz und dem Trauma war schockierend für sie zu merken, dass sie die Möglichkeit nicht nutzte, sogleich laut und klar Stopp zu sagen, weil man ihr etwas als kleines Mädchen nicht beigebracht hat oder weil man ihr stattdessen beigebracht hat, lieb und nett zu sein. Es ist für sie ein Wahnsinn, dass wir als kleine Mädchen in unserer Gesellschaft noch lernen zu lächeln statt zu brüllen und dass wir so früh auch lernen, wir müssten uns vor den Männern in acht nehmen. Damit ist immer ein latenter Rückzugsmodus und eine latente Haltung da, "hoffentlich passiert mir nichts". Es hatte sie sehr nachdenklich gemacht, wieso es so leicht war, sie zu überrumpeln. Es ist nicht nur im Puff, dass Vergewaltigungen passieren. Vergewaltigungen passieren immer noch häufig auch deshalb, weil wir Frauen nicht beigebracht haben, wie sie sich rechtzeitig wehren können. Und es ist nicht die Schuld des Opfers.

In der persönlichen Statistik von Ilani geschah mit dieser Vergewaltigung Macht durch Sex im Puff bei einem von ein paar hundert Fällen [im Vergleich zur Aussage von Alice Schwarzer].

Und nicht nur im Puff, sondern auch zu Hause hinter verschlossener Tür geschieht Gewalt, was unter dem Deckmantel Ehe, Beziehung, Familie geschluckt wird.

Trieb und Befriedigung beim Mann 
Männer, die gelegentlich bis mehrmals pro Tag starke Lust haben könnten sagen, sie müssten irgendwie ihren sexuellen Trieb oder Druck loslassen.
In der Sexualforschung ist der Sexualtrieb inzwischen als Konstrukt abgeschafft. Inzwischen ist nachgewiesen, dass ein Mann mehr braucht als nur einen Testosteronschub, um Lust auf Sex zu bekommen und das zu identifizieren, z.B. eine bestimmte kulturelle Erziehung und einen bestimmten psychischen Zustand.
 

Nicht statthafte Argumente für Prostitution  
Eine allfällige Argumentation oder Rechtfertigung, Prostitution könne dafür nützlich oder nötig sein, dass sexuell erregte Männer sich abreagieren können, statt Frauen oder Kinder zu vergewaltigen, ist für sie nicht haltbar. Das ist eine patriarchale Drohgebärde. Früher im Matriarchat gab es auch Männer, und diese haben nicht vergewaltigt; dort gibt es keine Vergewaltigung. Das heisst auch, dass es keinen Sexualtrieb gibt, der uns zwingen würde, so viele Prostituierte zu opfern, damit Ehefrauen verschont bleiben. [...] Es gibt kein Recht des Mannes einzufordern, dass man ihm andere Körperöffnungen zur Verfügung stellt.

Es gibt keinen männlichen Sexualtrieb, der uns zwingt, so und so viele Prostituierte zu opfern, damit die Ehefrauen verschont bleiben. Männer oder Frauen, die versuchen, auf dieser Basis eine Prostitution zu rechtfertigen, gehen einer patriarchalen Drohgebärde von Männern gegen Frauen auf den Leim. So what, dann haben halt die Männer gerade Lust auf Sex und keine Vagina, die sie bezahlen können. Wie viele Frauen leben mit verstümmelten Genitalien auf dieser Welt? Es gibt einfach kein Recht des Mannes einzufordern, dass man ihm andere Körperöffnungen zur Verfügung stellt. Das ist mal zum Thema Augenhöhe.

Darüber hinaus: Die meisten Männer werden deshalb so nervös durch sexuelle Kraft in sich, die sich bewegen und entladen möchte, weil sie nicht gelernt haben, mit einem hohen, gefüllten Energieniveau zu leben.
 

Das Potential von Sexualkraft und Lebenskraft 
Sexualkraft oder Sexualenergie ist Lebenskraft, die in unserer Gesellschaft verdreht oder blockiert ist durch konditionierte Sexualität oder Erziehung. Die Männer und auf Frauen sind blockiert.

Wir werden als Männer und Frauen unterschiedlich blockiert, aber dieses unterschiedlich blockiert werden bezeichnen wir als Konditionierung. Das beginnt spätestens ab dem Moment, wo wir geboren werden, wo wir als kleine Wesen auf die Welt kommen und quicklebendig sind. Wir kommen erst mal als leuchtende, orgasmische Wesen auf die Welt. Dann werden Jungs spezifisch konditioniert und beschämt in Bezug auf diese Lebenskraft. Sie werden immer kleiner als das, was sie halten können oder als das, was sich sicher für sie anfühlt als Energieniveau. In diesem kleinen Energieniveau gibt es etwas, das der Mann identifiziert als sexuellen Trieb und meint, er müsse damit irgendwo hin und ficken; er sei ja schliesslich ein Mann. Und dann (das hatten wir anderswo schon) werden Jungs konditioniert, sich für dieses hohe Energieniveau zu schämen. Die Jungs machen  es kleiner, um nicht aus der Herde herauszufliegen. Damit fühlt sich ein hohes Energieniveau unsicher an. Das ist der Punkt, an dem ein späterer Mann meint und sagen wird, er habe Lust auf Sex. Aber er weiss es nicht anders, und er hat nicht wirklich Lust auf Sex, sondern Lust darauf, diese Energie loszuwerden. Das ist der Punkt, durch den der Mann so wahnsinnig scharf ist auf die Entladung und ejakuliert. Das ist auch der Punkt, weshalb ein Mann in den Puff geht. Es ist kein Geschäft mit der Lust. Es ist ein Geschäft damit, die Lust loszuwerden.
Sie werden damit auch ihr Geld los. Es ist ein riesiger Markt in einem kapitalistischen System. Dasselbe auch mit Pornografie.

Und bald baut sich die eigentliche Energie wieder auf und ist wieder bereit, durch die Decke zu gehen. Wir werden sie wieder kleiner machen, indem wir sie zuerst unterdrücken, dann in den Puff gehen, dann wieder ejakulieren und dann für 5 Minuten ein bisschen Ruhe haben.

Ilan bringt ein Beispiel von einem intelligenten Freier im Puff, der am Schluss erkannte und sagte: "Meine Güte, wir gehen hier doch alle frustrierter heraus als wir hereingekommen sind."

Sie fand es irre, dass jemand so viel Mut und Ehrlichkeit mitbringt, das für ihn und die Freier zu sagen. Wir verstehen dieses System und ebenso das Patriarchat erst, wenn wir verstanden haben, dass es nur Verlierer gibt. Am Ende des Tages verlieren wir alle Energie, aber dieses geringe Energieniveau fühlt sich für uns Menschen in Bezug auf Lebenskraft oder Lebensenergie halt sicherer an. Das haben wir so gelernt.
 

Männlich und weiblich - gibt es das? 
Egal ob Mann, Frau, Hure, Nicht Hure ua.: Lasst uns tanzen zwischen diesen Polen.
Ilan findet, wir können die Pole markieren. Aber wir können nicht sagen, dass ein weiblicher Körper [nur] weiblich und ein männlicher Körper [nur] männlich sei oder wie man sich mit Yin oder Yang identifizieren würde. Sie findet es anstrengend, wenn unsere Sprache uns in irgendwelche Konzepte hinein drängt. Sehr viele Konzepte, die wir haben, z.B. von männlich und weiblich, sind nämlich sehr jung.

Der Ursprung des Begriffs Sexualität  
Auch beim Wort Sexualität mag es uns vorkommen, als ob dieser Begriff unglaublich tief mit der Steinzeit und mit dem Urschlamm der Existenz verbunden sei. Aber dieses Wort gibt es erst seit 350 Jahren. Es gab vorher kein solches Wort. Der Begriff oder die "Figur" Sexualität war vorher noch nicht gegründet und ist aus der Biologie entstanden, um Pflanzen im Verhalten miteinander zu beschreiben.
 

Prostitution das älteste Gewerbe der Welt?  
Es wird auch oft gesagt, Prostitution sei das älteste Gewerbe. Aber es ist auch hier nicht so: Man hat schon lange vorher Fussmassagen gegen Kartoffeln und Pelzmäntel gegen irgendwas getauscht. In Matriarchaten gab es regen Tauschhandel und rege Branchen, aber keine Prostitution. Prostitution ist so alt wie das Patriarchat; das sind 4000 Jahre, älter nicht. Prostitution ist nicht das älteste Gewerbe der Welt.

Wenn wir sagen, Prostitution sei das älteste Gewerbe, sagen wir es mit der Idee, wir müssten tolerant sein gegenüber Prostitution, weil wir sie ohnehin nicht abschaffen können. Aber das eine wie das andere ist falsch.
 

Was müssten wir tun, damit Prostitution überhaupt nicht mehr nötig ist? 
Was wir machen können, ist radikal die Schuldgefühle, das Schweigen und die Scham für Puffbesucher auflösen, weil
Zwangsprostitutierte sich für die Menschenhändler und Zuhälter nur lohnen, wenn diese Frauen mit vielen Männern Sex haben.

Angenommen, eine Zwangsprostituierte hat mit 10-15 Männern pro Tag Kontakt: Wenn einer dieser 10-15 Männer in einer sexuell würdigen Gesellschaft aufgewachsen ist und merkt, dass es dieser Frau nicht gut geht, dann wird er mit diesem Verdacht auf Menschenhandel zur Polizei gehen. Jeder Freier kann jederzeit schraffrei bei der Polizei einen Verdacht auf Menschenhandel melden. Wenn wir in der jetzigen Gesellschaft aus der Prostitution so einen Schattenbereich machen, tragen wir dazu bei, dass Zwangsprostitution und Menschenhandel weiterhin existieren.
 

Und das Prostitutionsgesetz? 
Das aktelle deutsche Prostitutionsgesetz ist aus Sicht von Ilan leider ein bürokratisches Monster. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es den Schutz derjenigen nicht verbessert, die es am nötigsten hätten (z.B. Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel) [Im Interview ab Minute 37 folgen Argumente, wieso].
 

Worum es Ilan im Interview und in ihrer Arbeit geht 
Zu ihren wichtigen Absichten zählen Aufklärung, Lernen, bewusst sich selbst zu lieben (was mehr als nur sexuell gemeint ist), Grenzen aufzeigen und Stopp sagen können. Jedes einzelne Nervensystem sehnt sich danach, klare Grenzen zu haben. Wenn wir Mädchen mehr Stolz auf den männlichen Körper und Jungs mehr Stolz auf den männlichen Körper beibringen, dann gibt es einen Instinkt der z.B. sagt: "Ich habe einen Penis; das ist ein so abgefahrenes, fantastisches Organ. Ich werde ihn nur teilen mit Vaginas und anderen Genitalien, die genauso freiwillig und glücklich damit sind wie ich."

Ilan glaubt, je mehr wir in einer sexuell feiernden, freien, grosszügigen Welt sind, die nicht in so rigiden geistigen Konzepten drin stecken, desto mehr werden sich problematische Aspekte von Pornokonsum, Prostitution, Geheimniskrämerei, Seitensprüngen usw. auflösen.

Natürlich ist auch wichtig, genug zu essen, Sicherheit usw. zu haben, um nicht in die Gefahr oder Versuchung von Prostitution zu geraten. Die Grenze zwischen Nicht-Prostitution und Prostitution ist sehr weit, die auf einer Notlage beruhen können. Aber Ilan kennt auch Personen, von denen man Prostitution nie erwarten würde, die das einfach einmal oder zweimal ausprobieren wollten. Und eine Freundin von ihr durfte auf einer Reise mit einem Fussfetichisten mitfahren, der für die Fahrt kein Geld haben wollte, sondern einfach, dass sie mit ihren Füssen über seine Brust läuft. Ist das Prostitution oder nicht mehr Prostitution?
 

Wo beginnt Prostitution und wo hört sie auf? 
Wie viele Frauen sind in partnerschaftlichen Verbindungen nicht berufstätig, haben gerne den materiellen Vorzug und stehen unter dem Mantel "Ehe". "Wo ist da der Unterschied?", fragt die Interviewerin.
Ilan  zitiert zum provozierenden Vergleich zwischen Ehefrau und Prostituierter einen Satz aus dem Buch „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1968 [den wir später noch in genauem Wortlaut ergänzt haben]:

Eine Prostituierte ist vom „wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen, [...] ein Pendant zu der [...] verheirateten Frau. ‚Der einzige Unterschied zwischen denen, die sich durch die Prostitution, und denen, die sich durch die Ehe verkaufen, liegt im Preis und in der Dauer des Vertrags‘, sagt Marro [1884]. Für alle beide ist der sexuelle Akt eine Dienstleistung. Die Zweite wird auf Lebensdauer von einem einzigen Mann verpflichtet, die erste hat mehrere Kunden, die sie stückweise bezahlen“ (DE BEAUVOIR 1968, S. 534).

Diese beiden Pole sind nahe beieinander. Im Patriarchat gehören Prostituierte nicht mehr nur einem Mann, sondern allen. Diese Art von Coup oder Triumph provoziert und verursacht halt auch Verurteilung und Doppelmoral.
 

Wieso Ilan aus der Prostitution ausgestiegen ist  
Ihr wurde langweilig. Sie hatte gemerkt, Prostitution ist nicht interessant genug.

Im weiteren hatte sie ein paar Wochen vorher ein sehr intensives sexuelles Erlebnis, ein Erweckungserlebnis würde sie das nennen, der auch mit dem Entdecken des G-Punkt verbunden war. Dieses Erlebnis hatte ihr alles weggenommen, was sie über sexuelle Lust, Orgasmus und Sexualität überhaupt dachte zu wissen. Von dort aus hat sie gemerkt, dass sie im Sex noch sehr vieles nicht begriffen habe, was sie dringend begreifen möchte und dass sie sich fortan entscheiden muss, ob sie den Sex von gestern weiter im Puff haben oder den Sex von morgen erforschen möchte. An diesem Punkt hat sie intuitiv gemerkt, dass sie in den Sex von morgen gehen möchte.

Inzwischen ist Ilan Körperforscherin, Traumatherapeuting und Seminarleiterin für Frauen, vielleicht künftig auch für Männer.
Ihre Website heisst kalis-kuss.de und bezieht sich auf den Kuss der Liebes- und Todesgöttin.

 

Weitere Interviews mit Ilan Stephani:

Das Geheimnis von Sexualität & wahrer Ekstase - Sinnliche Freiheit als Bewusstseinssprung
https://www.youtube.com/watch?v=KmHKLG6_q8E  

Sex, Power - Würde - Heilung - Veit Lindau im Gespräch mit Ilan Stephani
https://www.youtube.com/watch?v=0ANWJVf-R6E  

Ilan Stephani über Sexualität, Spiritualität und Selbstliebe. Gespräch mit Manuela Starkmann
https://www.youtube.com/watch?v=cxy3LDM_rkY